Das Mädchen an der Eiche

„Treue und Gehorsam gegen Schutz und Schirm“, auf diesen Merksatz könnte man eine Beschreibung der mittelalterlichen Wirtschafts-, Rechts- und Sozialordnung reduzieren. Die moderne Geschichtswissenschaft bedient sich als Oberbegriff des Wortes „Grundherrschaft“, um die Machtverhätnisse vom frühen Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert hinein zu bezeichnen.

Barhäuptige Bauern liefern ihre Abgaben an den Grundherrn ab.
Holzschnitt aus dem 15. Jh.

Die rechtliche Stellung der Landbevölkerung des Mittelalters gegenüber ihren Grundherren war schwach. Die Untertanen ländlicher Gebiete waren in der Regel „unfreie“ Hörige, waren zu Abgaben und Frondiensten verpflichtet, unterlagen der Rechtsprechung des jeweiligen Grundherren und blieben an die Scholle gebunden. Und seit der Reformation und dem Augsburger Religionsfrieden (1555) bestimmte der Feudalherr auch die Religionszugehörigkeit seiner Untertanen. Cuius regio, eius religio, auch cuius regio, illius religio (wörtlich übersetzt wessen Gebiet, dessen Religion, im damaligen Sprachgebrauch oft wes der Fürst, des der Glaub’).

Während für die Bewohner der Städte solche Abhängigkeiten nicht bestanden – „Stadtluft macht frei“ -war das Verhältnis zwischen Bauern und Grundherr konfliktreich und die Fronen und Abgaben bei den Bauern verhasst. Selten waren die Abgaben und Dienstpflichten so präzise definiert wie zum Beispiel im Prümer Urbar, dem Verzeichnis der Güter und Frondienstbarkeiten der Benediktinerabtei Prüm. Dem Missbrauch von Macht und der Willkür durch den Grundherrn war meistens Tür und Tor geöffnet.

Der Autor der „Abenteuer des Freiherrn von Münchhausen“, Gottfried August Bürger, klagt noch 1773 in seinem Gedicht „Der Bauer an seinen durchlauchtigsten Tyrannen“ solche willkürliche Machtausübung gegen Bauern an.

Wer bist du, Fürst, daß ohne Scheu
Zerrollen mich dein Wagenrad,
Zerschlagen darf dein Roß?

Wer bist du, Fürst, daß in mein Fleisch
Dein Freund, dein Jagdhund, ungebleut
Darf Klau’ und Rachen hau’n?

Wer bist du, daß, durch Saat und Forst,
Das Hurra deiner Jagd mich treibt,
Entatmet, wie das Wild? –

Die Saat, so deine Jagd zertritt,
Was Roß, und Hund, und Du verschlingst,
Das Brot, du Fürst, ist mein.

Du, Fürst, hast nicht, bei Egg’ und Pflug,
Hast nicht den Erntetag durchschwitzt.
Mein, mein ist Fleiß und Brot! –

Ha! du wärst Obrigkeit von Gott?
Gott spendet Segen aus; du raubst!
Du nicht von Gott, Tyrann!

Propagandistisch wurde dieses Machtgefälle zwischen Grundherrn und den Bauern oft durch das „ius prima noctis“ verdeutlicht. Danach soll ein Grundherr das Recht besessen haben, anstelle des Bräutigams die Hochzeitsnacht mit der Braut eines jungen Paares aus dem Bauernstand zu verbringen. Inzwischen ist man sich unter Historikern ziemlich sicher, dass es ein soches Recht offiziell „verbrieft“ nicht gegeben hat. Das heißt aber nicht automatisch, dass es auch solche sexuelle Übergriffigkeit nicht gegeben hat. Die nachstehende Geschichte deutet uns das jedenfalls an. Ich ordne diese Geschichte über Bellinde und dem „von sinnlichen Lüsten entbrannten“ Kuno von Rabe in die Geschichten aus der Eifel ein, wegen ihrer Fundstelle in einer alten Eifler Sagensammlung. 1

Es hat bis in die Zeit der Aufklärung gedauert, bis die „Bauernbefreiung“ 2 allmählich auch für den Bauernstand zur Aufhebung der feudalen Abhängigkeitverhältnisse führte.


Das Mädchen an der Eiche

Dort unten im Thale am Eichbaume liegt
Ein Mädchen bei nächtlicher Stunde,
Es schläft, ach, so ruhig, mit bleichem Gesicht,
Im Herzen die blutende Wunde.
Der Wanderer, der dort vorüberzieht,
Ruft, wenn er das schlafende Mädchen sieht,
Vor Schrecken ein ängstlich O wehe!
Und eilt aus dem Thale zur Höhe.

In eben dem Thale ein Hüttchen einst stand,
Die Sage noch laut es verkündet —
D’rin pflegte die Tochter mit liebender Hand
Den Vater, der alt und erblindet.
Sie war so voll Anmuth, lieblich und schön,
Wie nie mehr im Thale ein Mädchen geseh’n;
Ein Bildniß aus lichtern Welten,
Dafür konnt‘ Belinde wohl gelten.

Der Ritter, Hans Kuno von Rabe genannt,
Die schöne Belinde erspähte;
Er wurde von sinnlichen Lüsten entbrannt,
Um Liebe er heuchlerisch flehte;
Doch stets der Jungfrau unschuldig Gemüth
Das Gift der Hochmuth und Sinnelust flieht;
Und streng ward der Ritter beschieden :
„Laßt, Ritter, mich Arme in Frieden!“

Amynt war der sittsamste Schäfer im Thal,
Und innig geliebt von Belinden.
Es billigte segnend der Vater die Wahl,
Und Thränen entquollen den blinden,
So lange umflorten Augen gar heiß,
Und bald d’rauf ging der erblindete Greis
Hinüber zum Lande der Wonne
Und sah dort die ewige Sonne.

Da trugen Amynt und Belinde zum Grab
Des Vaters erkaltete Leiche;
Und wie sie sie senkten zur Tiefe hinab,
Da sprang aus dem nahen Gesträuche,
Gejagt von der Rüden wild – hetzender Schaar,
Ein Hirsch, der die Zierde des Waldes wohl war,
Mit königlich stolzem Geweihe,
Und suchte gar ängstlich das Freie.

Und schnell ihn verfolgte der Ritter zu Roß,
Der Ritter Hans Kuno von Rabe,
Er spannte mit hastiger Eil‘ das Geschoß,
Legt an da erblickt er am Grabe
Amynt und Belinde schmerzlich vereint,
Sieht wie hier die treueste Liebe weint,
Da brennt’s ihm im Herzen wie Flammen :
Er schießt, – und Amynt stürzt zusammen.

„Amynt, mein Amynt, o, verlasse mich nicht!“
Ruft jammernd die arme Belinde.
Es röchelt Amynt; ach, das Auge ihm bricht,
– Da greift Belinde geschwinde –
Den Pfeil in des Wahnsinns tödtendem Schmerz,
Und bohret ihn tief sich in’s sterbende Herz,
Sinkt nieder am Fuße der Eiche;
Die schöne Belinde eine Leiche!

Da liegt sie, wie schlafend, noch oftmals bei Nacht,
Sanft rieselt das Blut aus der Wunde;
Um Mitternacht kommt dann die grausige Jagd,
Der Hirsch und die hetzenden Hunde,
Ein feuriger Ritter auf feurigem Pferd,
Mit feurigem Bogen und feurigem Schwert,
Er reitet vorüber im Trabe,
Soll sein der Ritter von Rabe.

K. v. Orsbach.

  1. gefunden in: Sagen des Eifellandes nebst mehren darauf bezüglichen Dichtungen, Gesammelt u. herausgegeben von J. H. Schmitz 1847
    Auch der vom Herausgeber der Ballade angegebene Autor K.v. Orsbach verweist auf eine in der Umgebung von Aachen zu findende rheinische Adelsfamilie.
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  2. Die Bauernbefreiung bezeichnet die mehr als hundert Jahre dauernde Ablösung der persönlichen Verpflichtungen der Bauern gegenüber ihren Grund- und Leibherren vorwiegend im 18. und 19. Jahrhundert. 
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