Orendel und der graue Rock

Im 12 Jahrhundert tauchte im Umfeld einer einer Heiligrock-Wallfahrt die Legende von Orendel und dem grauen Rock auf. Überliefert ist sie uns unter dem Titel: „Der ungenähte graue Rock Christi: Wie König Orendel von Trier ihn erwirbt, darin Frau Breiden und das heilige Grab gewinnt, und ihn nach Trier bringt.“[2]

Das mittelalterliche Langgedicht über den Trierer Prinzen Orendel, das Werk eines unbekannten Spielmanns, sollte vermutlich den Glauben an die Echtheit der Reliquie stärken und später auch zur Teilnahme an einer Wallfahrt zum Heiligen Rock in Trier anregen. 1512 wurde die berühmte Tunika, in die „Stoffreste“ des Christusgewandes eingewebt sein sollen, erstmals öffentlich ausgestellt wurde. [1] Bis dahin hatte man ernsthaft gemeint, dass man als normalsterblicher Sünder beim Anblick des heiligen Tuches erblinden würde.

Der „Orendel“ ist ein mittelhochdeutsches Versepos in mittelfränkischer (d. i. die mittelhochdeutsche Variante unseres Dialekts) Sprache. Erhalten ist es allerdings nur in wesentlich jüngeren Bearbeitungen. Es gab eine handschriftliche Version von 1477 (1870 in Straßburg verbrannt) sowie eine Druckfassung und eine gedruckte Prosaversion, beide Augsburger Ausgaben aus dem Jahr 1512. Ist es ein Zufall, dass die erste öffentliche Zurschaustellung des Heiligen Rockes mit diesen „Neuverröffentlichungen“ zusammenfallen?

Erzählt wird, wie Orendel, der Sohn des Königs von Trier, sich aufmacht, Bride, die Königin von Jerusalem zu heiraten. In dem alten Spielmannslied wird sie beschrieben als die „schönste ob allen wiben“. Sein Weg und mit ihm auch der damit verbundene abenteuerliche Weg des Heiligen Rocks ist ein Weg voller wunderträchtiger Ereignisse, die uns von Trier nach Palästina und zurück führen. Es ist die Geschichte eines Quests, einer Heldenreise voller gefahrvoller „Aventiuren“, auf dem sich ein Trierer Königssohn mit Rittern, Riesen, Zwergen und Monstern messen muss.

Ihren Anfang nimmt die Geschichte damit, dass unser Held sich mit 72 Schiffen, acht Königen mit jeweils 1000 Rittern als Begleitung auf Brautfahrt geht. Orendels Flotte rammt jedoch auf dem Weg nach Jerusalem einen Eisberg und versinkt. Nur Orendel überlebt. Völlig nackt strandet er und wird von einem Fischer gefunden, der in für einen Seeräuber hält. Orendel dagegen gibt sich als einen Fischer aus. Um das zu beweisen verlangt „Meister Eise, ein Fischer her und weise“, von Orendel, ein großes Schiff voller Fische zu fangen. Mit der Hilfe von Sankt Peter, dem Patron der Fischer, gelingt es ihm dann auch, viereinhalb tausend Fische zu fangen. Im Bauch eines gefangenen Walfischs findet er einen grauen Rock, den er für das Gewand eines Herzogs hält. Der graue Rock, wir ahnen es schon, ist das Gewand Christi, über das die „Häscher“ das Los geworfen haben. Doch wie kommt es in den Bauch des Walfisches?

Auch dazu gibt die mittelalterliche Spielmannsdichtung eine Antwort. Nach der Kreuzigung kam das Gewand Christi an Herodes persönlich. Da es dem Herodes nicht gelungen war, die Blutflecken heraus zu waschen, gab er den Auftrag, ihm das Gewand aus den Augen zu schaffen. Also versenkte ein Diener das Gewand in einem steinernen Sarg im Meer. Der Steinsarg jedoch wurde trotz seines Gewichtes bis nach Zypern gespült. Dort findet ihn der Wallfahrer Tragemund, der erkennt, dass kein Sünder den Rock des Heilands tragen dürfe. Also wirft er das Kleid zurück ins Meer, wo es von einem Walfisch verschlungen wird.

Zurück zur Geschichte des Orendel. Weitere sechs Wochen muss unser Held, immer noch völlig nackt, dem Fischer und seiner Frau dienen, bevor er ein billiges Unterkleid aus Schaffell, einen Mantel und ein Paar rindslederne Schuhe erhält. Jetzt erst kann Orendel auf den Markt gehen, wo der graue Rock für 30 Goldstücke zum Verkauf angeboten wird . Doch kein Käufer findet sich, denn immer wenn jemand das Kleidungsstück anfasst, zerreißt es. Doch als Orendel den Rock anlegt, wird dieser wie ein neuer.
Orendel erhält nun von seinem Meister Urlaub um zum Heiligen Grab zu pilgern und nach Bride zu suchen.

Darstellung eines Tjosts, eines ritterlichen Lanzenkampfs
im Codex Manesse (um 1300)

Auf seinem Weg wird er von einem Riesen gefangen genommen und eingekerkert. Auf Bitte der Gottesmutter Maria befreit der Erzengel Gabriel ihn aus seinem Gefängnis. In Jerusalem angekommen trauert er am Grab Christi und weiht diesem sein Leben.

Währenddessen feiert man in Jerusalem ein großes Fest. Hier trifft er die Heidenkönige Marzian und Sudan, die gekommen sind, um ebenfalls um die Königin Briede zu werben. Der „Graurock“ bittet sie um ein Ross und Waffen, damit er an den abgehaltenen Ritterspielen teilnehmen kann. Während des Turniers tötet Orendel 24 Ritter, darunter der König Sudan, der ihn zuvor dem Spott der Menge aussetzen wollte. Sein Bruder Merzian sinnt auf Rache. Er stiftet den Riesen Mettwin an, der auf einem prächtig geschmückten Elefanten reitet, Orendel im Turnier zu töten. Doch am Ende siegt der Trierer Ritter und tötet den Riesen.

Jetzt erweist die Königin von Jerusalem dem Ritter ihren Respekt und bietet ihm Gruß und Kuss. Das wiederum erzürnt die heidnischen Könige, die mit ihren Soldaten gegen Orendel in die Schlacht ziehen. Doch bekleidet mit dem heiligen Rock Christi ist Orendel unverwundbar, und mit der Hilfe der Erzengel Michael, Gabriel und Raphael, der Goldkrone des biblischen Königs David und seines Wunderschwertes bleibt er am Ende Sieger in den nun folgenden Kämpfen.

Königin Breide erwartet den Sieger, lässt ein schönes Bett bereiten, badet Orendel und will nach einem Festmahl mit ihm Hochzeit feiern. Doch ein Engel verbietet dem Helden die „Minne“ für 9 Jahre.

Während dieser Zeit besteht Orendel eine Vielzahl von kriegerischen Auseinandersetzungen und Intrigen. Auch Königin Breide erscheint als Heeresführerin, die Orendel als Kriegerin in der Schlacht beisteht. Erst gegen Ende seiner zahlreichen Abenteuer gibt er sich als König von Trier zu erkennen und feiert mit Breide standesgemäß Hochzeit.

Der Begriff „Spielmannsdichtung“ wird heute nicht
mehr zur Beschreibung mittelalterlicher Langgedichte
benutzt. Aus dem burleskeren und weniger
intellektuellen Geschmack, den diese Abenteuer-
erzählungen im Vergleich zum höfischen Roman
aufweisen sollen, wurde geschlossen, dass sie von
herumziehenden Spielleuten geschaffen worden seien.
Spielmannslieder u. Spielmannsdichtung

Der Herausgeber des alten Spielmannsliedes, Friedrich Heinrich von der Hagen, der sich intensiv mit dem alten Mythos beschäftigt hat, kommt in seinem Studien zu dem Schluss: „man sieht wohl, bei aller christlichen Durchdringung, ist hier doch vornehmlich ein heldengedicht, welches auf ähnliche Weise wie der wunderrock, die Nähte nicht mehr erkennen lässt. Die Legende ist wohlbehalten, aber das geschichtliche derselben wundersam verwebt.“ [3]

Und am Ende ist es wie beim Heiligen Rock: „Die „spirituelle Echtheit“ ist dem Gläubigen wichtiger als jede Antwort auf die Frage: „Ist er denn eigentlich echt?“ Bei der Legende von Orendel und dem Grauen Rock zählt nicht die historische Echtheit sondern die Fiktion.

[1] Kleine Geschichte der Tunika Christi – Der Heilige Rock – wichtigste Reliquie und Wallfahrts-Ziel im Trierer Dom im Internet:*
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Orendel
[3] https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb10115846?page=5
[4] https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb10115846?page=19

Eine Nacherzählung des vollständigen Textes gibt es bei Google Books als kostenloses E-Book
Ottmar Schönhuth: König Orendel von Trier oder der heilige Rock . Eine schöne und anmuthige Historie . Mit schönen Figuren geziert . Reutlingen 1854

Weitere Quellen:
https://www.focus.de/kultur/diverses/die-tuchreliquie-heiliger-rock-wirft-neue-fragen-auf-kirchen_id_2412780.html
https://www.spiegel.de/politik/der-gemanagte-rock-a-7ab653ed-0002-0001-0000-000042625060

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