Mathildis‘ Traum

Nicht spektakulär aber sehr alt: Der Maulbeerbaum von Brauweiler

Wenn man in Deutschland nach Bäumen sucht, denen man nachsagt, dass sie älter als tausend Jahre sind, dann denkt man spontan an alte Eichen, die gewaltig, von Stürmen und Unwettern gezeichnet, den „Zeiten“ trotzen. Von daher kann ich nachvollziehen, dass jemand, der zum ersten Mal den Maulbeerbaum im Park der Abtei Brauweiler sieht, etwas enttäuscht ist. „Nicht so doll“, finde ich auf einem einschlägigen Baumportal als Kommentar zu dem Naturdenkmal. So ging es mir auch.

Doch seit ich weiß, welche schönen Geschichten sich hinter dem eher unspektakulären Buschwerk im Park der Benediktinerabtei Brauweiler verbergen, denke ich anders. Der alte Baum, beziehungsweise das, was noch von ihm übrig ist, beeindruckt mich aus mehreren Gründen: Einmal, weil sich an diesen Baum die Gründungssage für die Abtei Brauweiler knüpft. Zum anderen, weil man erstaunt vor einem wahren pflanzlichen Überlebenskünstler steht, der mit seiner erstaunlichen Vitalität seiner Zeitlichkeit trotzt.

An diesem Baum zeigt sich auch, dass es auch  schon zum Ende des 19. Jahrhunderts Leute gegeben hat, die hinter den Dingen mehr sehen können, als sie auf den ersten Blick zeigen.  Dass das Naturdenkmal bis in unsere Tage überlebt hat, verdankt es wohl einem engagierten Zeitungsredakteur. Der hat, nachdem der alte Baum nach einem heftigen Sturm umgekippt ist, mit einem Artikel über die Geschichte einer bis dahin nur wenig beachteten botanische Rarität verhindert, dass er 1896 endgültig gefällt worden ist.

Der Brauweiler Maulbeerbaum gleicht heute eher einem Gebüsch, das sich jetzt dort, wo die Äste des Gefallenen den Boden berührten, neue Wurzeln geschlagen hat. Jahr für Jahr treibt er neu aus, blüht, und entwickelt zuckersüße Früchte. Aus denen kocht man seit fast einem Jahrzehnt eine Marmelade, die alljährlich unter dem sinnigen Namen „Mathildis´ Traum“ anlässlich des Tags des offenen Denkmals verkauft wird.

Mathildis war eine Enkelin von Kaiser Otto III. Sie hat im Jahr 1024 im Alter von 14 Jahren zusammen mit ihrem Mann Ezzo, Pfalzgraf von Lothringen, bei einer Wallfahrt nach Rom vom Papst Benedikt VIII den Auftrag erhalten, nach der Heimreise ins Rheinland ein Kloster zu gründen.

Die Gründungssage  selbst ist im Gegensatz zu dieser historischen Kernwahrheit verwirrend, weil zwei Varianten erzählt werden. Eines Tages habe die frischvermählte Gattin des Grafen, so erzählt man es in der ersten Version, im Schatten eines Maulbeerbaums ruhend, den Traum gehabt, ihr öffne sich plötzlich der Himmel in all seiner Herrlichkeit.  Deshalb sei beschlossen worden, an dieser Stelle in Brauweiler ein Kloster zu gründen. Die zweite Variante lautet, der Pfalzgraf selber habe am Morgen nach der Hochzeitsnacht den Ast eines Maulbeerbaumes in die Erde gesteckt mit den Worten: „Ich schenke Dir allen Grund und Boden und alles, was hier wächst und steht.“

Sucht man nach Gemeinsamkeiten in den beiden Sagen, dann findet man diese vielleicht darin, dass zwei Jungvermählte nach einer gelungenen Hochzeit vor lauter Glücksgefühl und Dankbarkeit an Ort und Stelle ein Kloster gründeten. Das ist zwar ungewöhnlich, aber leuchtet mir angesichts der gesellschaftlichen Stellung und des damit verbundenen Wohlstands ein.

Auch der Bericht, der Pfalzgraf habe einen Ast eines Maulbeerbaums in die Erde gesteckt, aus dem sich die Pflanze entwickelt hat, ist möglicherweise richtig. Maulbeerbäume lassen sich tatsächlich vegetativ, also über Stecklinge, vermehren.

Weniger wahrscheinlich ist, dass bereits vor der pfalzgräflichen Ehe ein Maulbeerbaum in Brauweiler seinen Schatten geworfen hätte. Bei dem beschriebenen Baumdenkmal handelt es sich um eine Schwarze Maulbeere, die ursprünglich in Westasien beheimatet war. In der Wikipedia liest man, dass die Baumart „spätestens um 1500 in Südeuropa verbreitet war“.  Vielleicht handelte es sich, wenn nicht um einen Steckling, dann um den Sämling eines Baumes, der auf dem Nachttisch des jungen Paares platziert war. Dafür spräche, dass der Pfalzgraf der Sage nach eigenhändig ein Stück Boden ausgehoben haben soll. Tatsächlich empfehlen Gärtnereien für die Austopfung eines Maulbeerbaumes, eine großzügiges Pflanzloch auszuheben. Ich weiß, das ist etwas spekulativ.

Dass man zu Mathildis Lebzeiten bereits aus den süßen Maulbeerfrüchten Marmelade gekocht hat, ist dagegen nicht wahrscheinlich. Damals gab es zum einen noch keinen Einmachzucker und auch noch kein Pektin, das für die geleeartige Konsistenz sorgte. Bestenfalls hat man die Früchte zu einem Mus eingekocht, um sie als Wintervorrat haltbar zu machen. Da scheint mir der Brauweiler Maulbeerbaumschnaps, der bis vor einigen Jahren vom Landschaftsverband aus den Früchten destilliert wurde, näher an der historischen Wahrheit zu sein.

Sei’s drum: Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet ein vitaler fernöstlicher Baum in Verbindung mit einer neuzeitlichen Marmeladenkreation die Erinnerung an den „Traum“ einer mittelalterlichen Kaiserenkelin, ihre Hochzeitsnacht und die Klostergründung bis in unsere Gegenwart so anschaulich lebendig halten würde?

Wer mir in meiner Interpretation einer alten Sage widersprechen möchte, den erinnere ich an einen Satz von Arno Schmidt: „Die Welt ist groß genug, dass wir alle darin Unrecht haben können“

Interessante Links:

Der Zweig vom Maulbeerbaum

Zweiter August 1896: Ein Denkmal in Gefahr

Bildquelle Beitragsbild:

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